Im Auf und Ab historischer Konjunkturen, signifikante Wendepunkte zu lokalisieren, ist alles andere als einfach. Gemeint sind hier nicht die großen Epochenbrüche der Jahre 1492, 1517 oder 1648, die großen weltgeschichtlichen Zäsuren der Jahre 1789, 1914, 1945 oder zuletzt 1989. Gemeint sind die etwas weniger markanten Wendemarken, die einzelne Staaten, ihre Gesellschaften oder deren Volkswirtschaften aus der gewohnten Bahn werfen bzw. auf eine andere Fahrspur lenken. Die meisten Wendepunkte dieser Art sind fremdgetrieben oder durch äußere Einflüsse verursacht. Eher die Ausnahme sind Umbruchprozesse, die explizit hausgemacht sind und nur noch lose mit überregionalen oder gar globalen Veränderungsprozessen in Verbindung stehen. Umbruchprozesse, die sich sozusagen verselbständigt haben und eine oftmals nur noch schwer kontrollierbare Eigendynamik gewinnen.
Selten zuvor in der Geschichte unserer Republik war der politische Raum dermaßen prall angefüllt mit Wendemetaphern, wie in der Gegenwart. Die Rede ist von „Energiewende“, „Agrarwende“, „Verkehrswende“ und „Wärmewende“. Allesamt Begriffe im Kontext der sog. „Klimawende“, die mittlerweile einen ganzen Konvoi von anderen Wendemanövern hinter sich her zieht.
„Zeitenwende“
Eine gewisse Verwirrung entstand im Februar 2022, als Kanzler Scholz den merkwürdig aufgeladenen Begriff der „Zeitenwende“ in die Debatte warf. Hatte sich bis dahin fast die gesamte Wenderhetorik direkt oder indirekt auf den Klimakontext bezogen, verschob sich mit dem Auftritt von Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 das Wendenarrativ quasi über Nacht in Richtung „Ukraine-Krieg“.
Tief geschockt durch den lange für unmöglich gehaltenen Angriff Russlands auf die Ukraine suchten die Regierenden – ein Stück weit vergleichbar mit der Situation zwei Jahre zuvor im Kontext der „Corona-Wende“ – nach einer besonders wirkungsvollen Umbruchmetapher und griffen in ihrer Not nach dem eigentlich für große Epochenzäsuren reservierten Begriff der „Zeitenwende“.
Mobilisierungs-Alarm trifft auf Gleichmut
Um zu erkennen, wie überhastet die Einführung dieses Begriffs in den Debattenraum war und wie wenig er die reale Befindlichkeit der deutschen Psyche beschreibt, genügt ein nüchterner Blick auf den innerdeutschen Alltag. Weit entfernt von der zum Teil völlig überzogen anmutenden Kriegsrhetorik in diversen Medien bleibt der Durchschnittsdeutsche im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen im Osten der Ukraine überwiegend gleichmütig.
Klar, das Gas ist teurer geworden, die Pipelines aus dem Osten sind entweder versiegt oder gesprengt und die Fotos von lächelnden Bundespolitikern an der Seite Putins sind in den untersten Schubladen der Redaktionsschreibtische verschwunden. Doch selbst die martialischen Frontberichte, die lauten Kriegsfanfaren aus dem medialen Raum oder die furchtbaren Bilder vom epischen Sterben an den Fronten bringen den mitteleuropäischen Medienkonsumenten nur selten aus der Fassung. Auch alle Versuche von selbsternannten „Experten“ ohne Wehrpass, dem Publikum zu bester Sendezeit die Feuerkraft von 120mm-Glattrohrkanonen zu erklären, führen eher zu fortschreitender Abstumpfung als zu „Zeitenwende-adäquater“ Mobilisierung. Die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen ist offensichtlich weder bereit noch in der Lage sich auf eine militärisch-politische Zeitenwende einzulassen.
So bleibt der Begriff der „Zeitenwende“ im Kontext des Ukraine-Krieges – selbst angesichts zunehmender Eskalationsgefahren an der Front zwischen Russland und dem Westen – merkwürdig stumpf und wirkungsarm. Wäre in Deutschland wirklich eine echte militärische Zeitenwende gewollt, hätten die Regierenden längst eine Art „Kriegssteuer“ („Ukraine-Soli“) erhoben, den Verteidigungshaushalt zu Lasten der Sozialausgaben erhöht oder gar die Wehrpflicht wieder eingeführt. Nichts dergleichen ist in den letzten 2 Jahren passiert.
Klima(zeiten)wende
Also doch „Klimawende“ statt „Zeitenwende“? Und doch „Energiewende“ statt „Rüstungswende“? – Wenn´s nach den Protagonisten der Klimabewegung gegangen wäre, hätte es darüber ohnehin nie einen Zweifel geben dürfen. Der weltweite Kampf gegen die Klimakatastrophe duldet ohnehin keine Pause. Und – Hand aufs Herz – wer will im geistigen Mutterland von „Schwerter zu Pflugscharen“ wirklich „kriegstüchtig“ werden und erst danach das Weltklima retten.
Das Problem im Zusammenhang mit dem Wettlauf der Wendenarrative liegt jedoch ganz offensichtlich auf einem anderen Feld. Was im Schatten der publizistisch tief ausgeleuchteten Klimawende lange vernachlässigt wurde, ist der Umstand, dass alle Umbaumaßnahmen zugunsten des Weltklimas unweigerlich erhebliche Folgewirkungen für Wohlstand und sozialen Zusammenhalt in den betroffenen Transformationsgesellschaften nach sich ziehen würden.
Klimawende mit der Brechstange
In besonderer Weise sichtbar wird das im Zusammenhang mit der in Deutschland besonders rigide vorangetriebenen Energiewende und ihren „kleinen Schwestern“ namens „Verkehrs- und Wärmewende“. Das demoskopische Debakel der Ampelkoalition (von 52 (September 2021) auf 33 % (Februar 2023)) dürfte wesentlich damit zu tun haben, dass bei der Implementierung der eingeleiteten Maßnahmen fundamentale ökonomische und soziale Fragen weitgehend außen vor blieben.
Vielfach losgelöst von der sozioökonomischen Realität wurden Gesetze und Verordnungen am weltanschaulichen Reißbrett erdacht und dann auch noch fast ausschließlich über Verbote, ordnungsrechtliche Eingriffe und enge Regulierungen umgesetzt. Statt den in entwickelten Ökonomien gut erprobten Innovationswettbewerb zu fördern und marktwirtschaftliche Anreize für nachhaltige CO2-Einsparungen zu nutzen, ließen die Verantwortlichen dem staatlichen Dirigismus freien Lauf.
Die Folgen:
1.) Aus dem Ruder laufende Netzentgelte, die den Strompreis in einsame Höhen trieben. Statt der viel beschworenen „Kugel Eis“ (Jürgen Trittin) bewegen sich die Kosten der Energiewende – nach vorsichtigen Schätzungen der Bundesnetzagentur – in großen Sprüngen in Richtung 500 Mrd. Euro.
2.) Eine ehemals florierende Automobilindustrie, die sich auf Technologieverbote einstellen muss ohne ausreichend Zeit für die Entwicklung technisch und preislich konkurrenzfähiger Produktalternativen zu bekommen.
Und 3.) Verbraucher, die bestens funktionierende Gas-Heizungen verschrotten sollen, obwohl für den Großteil des Gebäudealtbestandes in Deutschland, die Wärmepumpe als einzige echte Alternative weitgehend ungeeignet ist…!
Die Liste der Paradoxien der breit propagierten Energiewende ließe sich quasi beliebig fortsetzen: CO2-intensive Braunkohlemeiler statt CO2-freie Atommeiler; Importierter Strom aus französischen Uralt-AKWs statt heimischer Strom aus modernen Kernkraftwerken; Messung der CO2-Last von „emissionsfreien“ E-Autos „am Auspuff“ statt am Anfang der Wertschöpfungskette etc.
Das alles wäre an sich schon bitter genug, wenn das Beschriebene sich nicht auch noch mit Wucht auf die wirtschaftliche Entwicklung und zwischenzeitlich auch auf den Arbeitsmarkt auswirken würde.
Ökonomische Talfahrt
Was eigentlich als Energiewende geplant war, entwickelt sich zusehends zur negativen Konjunkturwende. Die Wirtschaft insgesamt, allen voran die Industrie befindet sich in einem prekären Abwärtstrend. Die Zahl der Insolvenzen steigt stetig. Immer mehr Unternehmen investieren jenseits der deutschen Grenzen oder verlagern im großen Stil Arbeitsplätze ins Ausland. Ehemals weitherum bewundert für seinen Erfindergeist, seine Solidität und seine gut funktionierende Infrastruktur stürzt der einstige europäische Klassenprimus immer tiefer ab. „Wohlstandsmuseum“, „Stillstandland“, „dümmste Energiepolitik der Welt“, Land der „Postwachstumsluftschlösser“ und „Transformationsruinen“ – um nur einige besonders markante Schlagzeilen aus der internationalen Presse zu zitieren.
Als jüngst über den Jahreswechsel auch noch die „Agrarwende“ lautstarke Proteste statt gutmütige Wendeeuphorie auslöste und dann zu allem Überfluss auch noch massenhaft Traktoren durchs Land rollten, machte sich kurzzeitig selbst in den tonangebenden Kreisen der Klimapolitik eine gewisse Unsicherheit breit. Sind wir überhaupt noch auf dem richtigen Kurs? Geht echter Fortschritt in Sachen Klimawende nicht doch eher über Marktwirtschaft und Technologiewettbewerb? Warum gehen unsere Nachbarländer die diversen Herausforderungen des Klimaumbaus so grundlegend anders und deutlich erfolgreicher an als wir? Warum fangen jetzt sogar die deutschen Bauern an „Gelbwesten“ zu spielen?
Totalumbau des Maschinenraums
Die Verunsicherung währte jedoch nur kurz. An der Grundausrichtung der großen Klimawende sollte und durfte sich nichts ändern. Soziale Härten würde man schon bald wieder abfedern können, wenn erst die leidige „Schuldenbremse“ reformiert sei. Und der Ausverkauf von großen Teilen der deutsche Industrie sei zwar schmerzhaft, aber im Blick auf die innerdeutsche „Klimabilanz“ fast sogar ein Segen – so zumindest der Eindruck beim Blick auf die merkwürdig uninspirierte Wirtschaftspolitik des grünen „Klimaministers“.
Was sich in diesem Kontext längst hätte herumsprechen müssen, ist der Umstand, dass politisch aktiv herbeigeführte Wendemanöver geradezu zwingend einen multiperspektivischen Blick auf die möglichen Folgen von Fehlsteuerungen voraussetzen. Insbesondere dann, wenn man sich zum Ziel gesetzt hat, den kompletten Maschinenraum der eigenen Volkswirtschaft im laufenden Betrieb auszutauschen.
Wie oben bereits angedeutet rütteln die historisch beispiellosen Eingriffe in unsere ökonomischen und energetischen Herzkammern zunehmend am Fundament des Wirtschaftsstandorts: Die deutsche Wirtschaft fällt im internationalen Wettbewerb immer weiter zurück und hält im internationalen Wachstumsranking der entwickelten Industriestaaten mittlerweile die rote Laterne in der Hand. Mittlerweile rangiert die Bundesrepublik nur noch auf Platz 20 beim BIP pro Kopf, dem nach wie vor wichtigsten Wohlstandsindikator. Darüber hinaus erleben wir einen rasanten Kapitalabfluss; eine massive Belastung durch rekordhohe Strompreise, Höchstsätze bei Steuern und Abgaben sowie eine massive Bürokratielast. Traditionsunternehmen wie ZF Friedrichshafen, Bosch; Continental und Bayer bauen massiv Stellen ab oder verlagern im großen Stil Arbeitsplätze ins Ausland. Stellvertretend für viele, sei hier nur Markus Miele zitiert, der sich wie Hunderte andere Mittelständler zunehmende Sorgen um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland macht : „In der Industrie brennt es lichterloh! Was wir derzeit erleben, ist keine vorübergehende Konjunkturdelle, sondern eine nachhaltige Veränderung der für uns relevanten Rahmenbedingungen.“
Klimawende auf Pump?
Trotz dieser eigentlich unüberhörbaren Warnungen deutet vieles darauf hin, dass die Ampelkoalition versuchen wird die Schuldenbremse einer grundlegenden „Reform“ zu unterziehen, um den bis zum Verfassungsgerichtsurteil vom 15. November 2023 praktizierten massiven Subventionskurs fortzusetzen. Das Problem hierbei dürfte die wachsende Instabilität der diversen Schuldentürme bzw. die progressive Endlichkeit der Kreditressourcen sein.
Die Gesamtverschuldung der Republik liegt bereits jetzt bei rd. 2,5 Billionen Euro. Unter Hinzurechnung der impliziten Schulden kumuliert sich das Kreditvolumen bzw. die innerdeutsche „Nachhaltigkeitslücke“ sogar schon auf rd. 17,3 Billionen Euro. Die noch vorhandenen Spielräume für neue kreditfinanzierte Subventionswellen sind also sichtbar begrenzt.
Autoritäres System – keine Option
Im Zuge der Radikalisierung der Klimabewegung wird als alternative Option neuerdings wieder verstärkt über ein Systemwechsel in Richtung auf einen „Klimastaat“ diskutiert. Diese nicht nur unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten äußerst fragwürdigen Modelle würden geradezu zwangsläufig den Weg Richtung Obrigkeitsstaat ebnen und die etablierten pluralen Systeme in einspurige Diskurskorridore verwandeln.
Der sich im Umfeld solcher Planspiele formierende politische Aktivismus und die sich immer flächendeckender ausbreitende explizit linke Diskurshegemonie tragen wesentlich zur Vertiefung der innergesellschaftlichen Spaltung in weiten Teilen des entwickelten Westens bei. Geradezu exemplarisch vollziehen sich diese Spaltungsprozesse in den USA.
Der hohe Grad der gesellschaftlichen Spaltung in den Vereinigten Staaten lässt mittlerweile sogar erste Symptome der Unregierbarkeit sichtbar werden. „Left coast“ und „Right coast“ prallen im öffentlichen Diskurs immer unversöhnlicher aufeinander. Versuche, insbesondere der „woken“ Linken die ohnehin schon weit gediehene kulturell-mediale Hegemonie weiter auszubauen und explizit linke „Denk- und Sprachmuster“ über Diskurskontrolle und Begriffstabus durchzusetzen, stoßen auf einen immer unversöhnlicher auftretenden Widerstand von Rechts.
Unter die Räder kommt dabei die politische Mitte, die im rigiden Kampf der Kontrahenten von Rechts und Links um die diskursive Lufthoheit zunehmend ihre eigene politische Artikulationsfähigkeit verliert. Im großen „Kampf gegen Rechts“ verliert die konservativ-liberale Mitte Schritt für Schritt ihre eigene politische Identität, zieht sich vermehrt mit der weißen Fahne am Dachfirst ins Unpolitische, sprich in die eigenen vier Wände, zurück und überlässt den ideologischen Hardlinern das diskursive Feld.
Zwei große Wendemarken
Wenn man in diesen Tagen also im politischen Kontext von Wendepunkten spricht, dann lassen sich in einem groben Raster zwei große Wendemarken erkennen. Zum einen eine tief in der Bewährungsprobe steckende Klimawende, die sich zumindest in Mitteleuropa offensichtlich immer schwerer tut das ökonomisch-soziale Feld adäquat mit zu bestellen. Der Versuch, die ökologische Frage ohne den Umweg über die soziale Frage lösen zu wollen, stößt vermehrt an natürliche Grenzen und die dadurch ausgelösten politischen Verwerfungen werden zunehmend spürbarer.
Der zweite Wendepunkt zeichnet sich zumindest in Mitteleuropa erst in Ansätzen ab und ist ein explizit gesellschaftlicher Wendepunkt mit stark kultureller Einfärbung. Während in weiten Teilen Europas die rechte, sprich bürgerliche Mitte, zumindest ansatzweise noch ureigene Positionen z.B. in der Kultur- und Gesellschaftspolitik, in der Familienpolitik, in der Mittelstandspolitik oder in der Finanz- und Wirtschaftspolitik artikuliert – wenn auch mit deutlich abnehmender Tendenz – sind in den Vereinigten Staaten die bürgerlichen Mittelwege überwiegend bereits verbaut oder zu staubigen Pisten am Rande der beiden großen, wuchtig aufeinander zulaufenden Polit-Autobahnen der Radikalen von Links und Rechts geworden.
Nachsprechen reicht nicht
Was in fast allen westlichen Gesellschaften auffällt, ist die fast schon als Selbstaufgabe interpretierbare Duldsamkeit der bürgerlichen Mitte, die mittlerweile bereit zu seien scheint, selbst zentrale geistige Fundamente ihrer ererbten politischen Substanz fast widerstandslos preiszugeben. Beinahe körperliche Schmerzen bereitet hierbei das demonstrative Nachsprechen von einfachen Formeln, die aus dem Satzbaukasten des real existierenden Sozialismus stammen könnten. Fast schon tragisch mutet es an, dass bei all dem das mühsam über Generationen hinweg erkämpfte bürgerlich-freiheitliche Credo der selbstdenkenden, selbstbestimmten Mittelschicht ständig weiter erodiert, statt endlich wieder wegleitend für den politisch-gesellschaftlichen Diskurs zu werden.
Bei all dem bleibt die Hoffnung, dass sich unter dem Eindruck der Folgeschäden der großen gesellschaftlichen Wende am Ende doch noch die Einsicht durchsetzt, dass Demokratie, Freiheit und Wohlstand etwas sind, was sich jede Generation immer wieder neu erarbeiten muss. Und zwar nicht in dem sie Vorgegebenes und Vorgekautes einfach nachspricht, sondern in dem sie sich selbst-denkend, selbst-bewusst und vor allem mutig für die freie Gesellschaft in die Bresche wirft.