Angriff aus dem Hinterhalt

Erst der große Börsencrash (2008), dann Fukushima (2011) und nun seit dem Jahreswechsel 2019/20 Corona. Droht dem 21. Jahrhundert ein ähnlich vermaladeiter Start wie dem 20. Jahrhundert? Erst noch Belle Époque und boomende Wirtschaft und dann der tiefe Fall (1914)? Laut dem Publizsten und Börsenbroker Nassim Nicholas Taleb (“The Black Swan”, 2007)  mangelt es uns einfach an einem wirkungsvollen Risikomanagement. Wir “rechnen” im buchstäblichen Sinne einfach nicht mit den oben erwähnten “externen Schocks”. Unsere ausgefeilten Risikokalküle schreiben Vergangenes in der Regel einfach nur fort und behandeln das “gänzlich Unwahrscheinliche” (den “Schwarzen Schwan”) wie eine Unbekannte in einer ansonsten ungestört verlaufenden Aufwärtsentwicklung.

Eigentlich müssten wir es besser wissen. Seit Menschengedenken schütteln uns Seuchen, Epidemien und die unvorhersehbaren Gefahren aus der geheimnisvollen Welt des mikroskopisch Kleinen. Natur, dass wissen wir seit langem ist unendliche Schönheit und schier endlose Fülle, aber auch die Quelle für vielfältige Gefahren und plötzlich auftretende Katastrophen.

Der Mensch und das Virus

Deutlich älter als unsere Erkenntnisse über die Wirkungszusammenhänge der Virologie sind unsere Antworten auf die wellenartig hereinbrechenden Seuchenzüge. Als Pioniere auf diesem heiklen Sektor gelten die Venezianer. Die Erfinder der “Quarantäne”, der 40-tägigen Isolierung von seuchenverdächtigen Schiffsbesatzungen, die auf Reede bleiben bis die “Inkubationszeit” abgelaufen ist. Als Seefahrer und Händler und damit als Pioniere des globalen Austauschs von Gütern und Menschen war den Bewohnern der Serenissima bereits frühzeitig klar, dass Handel und Verkehr, vor allem wenn überseeische Kontexte bedient werden, ohne  Risikovorsorge dieser Art nicht auskommen.

Als Sprößlinge der wissenschaftlich-technischen Moderne haben wir viele dieser alten, bewährten Praktiken leider weitgehend verlernt. Wir sind sorgloser geworden, vor allem auch weil uns Helden-Gelehrte wie Robert Koch und Louis Pasteur durch ihre bahnbrechenden Entdeckungen von vielen dieser furchtbaren Menschheit-Geißeln befreit haben. Das “vibrio cholorae” oder das “Mycobacterium tubercolosis” wurden in unseren Breiten fast vollständig besiegt und die öffentliche Hygiene selbst in unseren dicht besiedelten Ballungsräumen erschien in den letzten Jahrzehnten über jeden Zweifel erhaben.

Stete Wachsamkeit

Was uns hätte nachdenklich stimmen müssen, ist die Tatsache, dass mit der wachsenden Forschungsintensität auch die Erkenntnis über den unendlichen Erfindungsreichtum der Viren mit wuchs. Ihr unstillbarer Drang nach Vermehrung, ihr geschicktes Ausnutzen von lebendigen Zellen zur Fortpflanzung und ihre Variabilität auf dem Felde der Mutation hätte uns wachsam und sprungbereit halten müssen. Unter dem Motto: Jederzeit gewappnet sein, für das “Unwahrscheinliche”, das plötzlich Auftretende, das mit eminenter Wucht aus dem Hinterhalt zuschlägt.

Doch – Hand aufs Herz – lassen sich moderne Gesellschaften, die international vernetzt sind und schon vor Jahrzehnten den konsequenten Weg ins globale Zeitalter beschritten haben, so mir nichts dir nichts in große Quarantäne-Stationen verwandeln? Wie könnte eine planvolle Vorbereitung auf solche Mega-Ereignisse aussehen? Ist der Mentalitätshaushalt des weltweit reisenden und global handelnden Individuums überhaupt noch in der Lage solche Schocks zu antizipieren.

Humanitäre Nothelfer

Schwierige Fragen, deren Beantwortung in der akuten Krisenlage kaum zu den vorangigen Notwendigkeiten gehören dürfte. Momentan heißt es anpacken, mithelfen die Krise zu überwinden und denen Hilfestellung zu geben, die draußen an den Hot Spots der Krise ihren großartigen medizinisch-humanitären Notdienst am Menschen verrichten. Das gebietet die Menschlichkeit und gilt unabhängig von allen möglicherweise vorhandenen Zweifeln und Bedenken hinsichtlich der Richtigkeit der Strategie.

Doppelkrisen-Dilemma

Das Fatale an der momentanen Lage ist, dass die medizinisch-humanitäre Krise untrennbar mit einer zweiten ökonomisch-sozialen Mega-Krise verwoben ist. Nachvollziehbarer Weise richtet sich unser Blick aktuell fast ausschlieblich auf das akute Corona-Krisenmanagement. Ansteckungen vermeiden, die Seuche eindämmen, Leben retten und die medizinischen Kapazitäten so organisieren, dass keine Überlastungssituationen entstehen.

Um so länger die eine Krise jedoch dauert und wir den “Exit” hinausschieben, um so größer und unberechenbarer wird die andere. Um so lückenloser wir den Shutdown organisieren, um so tiefer rutschen Wirtschaft und Gesellschaft in die ökonomisch-soziale Krise. Dieses bittere Dilemma sollte uns nicht davon abhalten, jetzt konsequent zu handeln und das Notwendige zu tun, um die Seuche rasch einzudämmen. Es sollte uns aber bewußt bleiben und bei allen Rufen nach noch mehr Restriktionen und nach noch mehr Beschränkungen der Bewegungsfreiheit immer wieder bewußt machen, dass die Opferzahlen von zusammenbrechenden Infrastrukturen, kollabierenden Volkswirtschaften und implodierenden Sozialsystemen schnell deutlich größere Dimensionen erreichen können, als in der medizinischen Notlage.

Folge- und Fernwirkungen

Deshalb am Schluss nur noch ein kurzer Exkurs im Blick auf die Frage, welche Veränderungsdynamik die Corona-Krise in wichtigen Kernbereichen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auslösen könnte:

– Was sich jetzt schon abzeichnet, ist eine Art “Globalisierungs-Schock”. Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die weltweiten Unternehmens-Netzwerke, die Lieferketten und die damit eng zusammenhängenden Finanzsysteme dürften deutlich nachhaltiger ausfallen, als die Folgewirkungen der globalen Finanzkrise der Jahre 2008ff.. Das Going global der Wirtschaft wird weiter gehen, aber die Krise wird massive Bremsspuren auf den Autobahnen der Globalisierung hinterlassen.

– Die Nationalstaaten, auch die föderal organisierten, werden gegen den Trend wieder an Bedeutung und Reputation gewinnen. Sie sind die eigentlichen Gestaltungsinstanzen in der Krise. Die akuten Hilfegesuche richten sich nicht an die WHO oder die Europäische Kommission, sondern explizit an die nationalen Regierungen. Nationale Grenzen, die noch vor wenigen Wochen als “nicht sicherbar” tituliert wurden, sind auf einmal hermetisch abgeschlossen. Und niemand traut sich momentan zu behaupten, dass “nationale Lösungen” selbstverständlich hinter “europäischen Lösungen” zurücktreten müssen.

– In demokratisch organisierten Rechtsstaaten kommt einerseits dem Grundrechtsschutz und andererseits den Mechanismen der demokratischen Kontrolle durch Parlamente und Opposition zentrale Bedeutung zu. Um so wichtiger ist es, dass das stark exekutivlastige Notstandsmanagement nach Überwindung der Krise schnell wieder in den Normalzustand zurückgeführt wird. Keine Krise dieser Art lässt sich ohne starke administrative Durchgriffsrechte bewältigen, aber Notstand ist Notstand und darf auch in Teilbereichen nicht zum Dauerzustand werden.

– Gestärkt aus der Krise hervorgehen, wird ohne Zweifel die Digitalwirtschaft. Auch hier wird es selbstverständlich punktuell krisenbedingte Insolvenzen geben, aber die (virtuellen) Medien der Ferngesellschaft werden die letzten Bastionen der auf face-to-face-Kommunikation beruhenden Nahgesellschaft noch weiter hinter sich lassen. Schlüsselwörter wie “Homeoffice”, “Video-Conferencing” oder “Instant Messaging” werden in den nächsten Jahren den Unternehmensalltag, aber auch die Sphäre der privaten Kommunikation noch nachhaltiger dominieren. Das zukünftige Mehrprodukt der Kommunikation wird fast ausschließlich von den elektronischen Medien abgeschöpft werden.

– Die zweite Boombranche der Zukunft wird ohne Zweifel die Gesundheitswirtschaft werden. Die Menschen werden die Vorteile eines funktionierenden Gesundheitswesens noch mehr zu schätzen zu wissen, als das derzeit ohnehin schon der Fall ist. Das bedeutet einen Anerkennungsgewinn, aber auch einen volkswirtschaftlichen Bedeutungsgewinn, nicht nur auf den Feldern der Versorgung und der medizinischen Forschung, sondern ganz generell auf dem Sektor der öffentlichen und privaten Investitionen.

Danke!

Ohne diesen weiteren, hochverdienten Anerkennungsgewinn abzuwarten, schon jetzt:

HERZLICHEN DANK AN ALL DIEJENIGEN, DIE MOMENTAN IHRE KRAFT UND IHRE EIGENE GESUNDHEIT FÜR DEN DIENST AM MENSCHEN EINSETZEN.