Animal sociale

In diesen Tagen ist viel von Solidarität die Rede. Von Zusammengehörigkeit, von gegenseitiger Hilfestellung und wechselseitigem Miteinander. Die Krise schweißt uns zusammen! Überwindet gewachsene Barrieren und formiert eine allgegenwärtige Notgemeinschaft. Ja, möchte man sagen. Da ist was dran. Die Hilfsbereitschaft der Ärzte und Pfleger gegenüber den Corona-Patienten ist vorbildlich. Auch die großen Solidargemeinschaften leisten in diesen schwierigen Zeiten Beachtliches. Doch wie ist es mit dem allgemein verordneten „Social distancing“? Kann man auch hinter der Maske und über 2 Meter Abstand hinweg solidarisch sein? Und was ist mit den geradezu riesenhaften Hilfspaketen? Sind die nicht fast alle national „begrenzt“? Grenzüberschreitend im Weltmaßstab kommt momentan nur wenig zustande! Im Gegenteil: Reisewarnungen bleiben bestehen und Grenzsperren werden nur widerwillig gelockert. – Also was ist nun: Solidarisierung oder Desolidarisierung? Sitzen wir alle in einem Boot oder rudert doch jeder für sich?

Für Aristoteles, den antiken Vordenker der Solidarität, gab es keinen Zweifel: Der Mensch ist ein animal sociale, ein zoon politicon, ein durch und durch geselliges Wesen, das die Gemeinschaft braucht, um zu überleben. Wer außerhalb der Polis, außerhalb des Gemeinwesens, steht, ist entweder ein Tier oder ein Gott. Homo sapiens braucht den Anschluss, den gemeinschaftlich bewohnten Raum. Außenstehen, so der griechische Philosoph, heißt Isolation und fortschreitende Verkümmerung.

Ptolemäus ist tot

Doch wo endet das Innen und wo beginnt das Außen? Leben wir nicht seit Nikolaus Kopernikus, seit Friedrich Nietzsche oder spätestens seit Sigmund Freud im Weltalter der progressiven Dezentrierungen.* Haben wir nicht längst alle alten „Schoßlagen“, die politischen, die kosmischen und die psychosozialen, verlassen und die Geborgenheit unserer alten wärmenden Gewölbe verloren? Oder anders: Haben wir den Götterhimmel bzw. das schützende Dach unseres alten Hauses nicht längst von innen her selbst abgerissen und uns als aufgeklärte, ständig fragende, ständig zweifelnde Wesen nicht selbst ins Exil geschickt? Die Erde, das steht für uns Heutige doch seit langem außer Frage, ist ein Staubkorn im Universum, dezentriert, auf keinen Fall Mittelpunkt von irgendwas und schon gar kein Ort, um den sich alles dreht, sondern im Gegenteil: ein zugiger Platz ohne himmlische Schalen am Rande eines riesigen Nichts.

Wohlstandstreibhaus

Halt stop! Ist das nicht abstrakte Sphärenkunde? Alles tausend Mal durchdacht und längst verarbeitet und akzeptiert? Wer träumt sich heute noch in die alten, doch nur vermeintlich idyllischen „Schalenwelten“ zurück? Wer braucht heute noch kosmische oder gar göttliche Widerlager um sich sicher und geborgen zu fühlen? Ist die gigantische, voll klimatisierte Glasglocke unter der wir so komfortabel leben, nicht Ersatz genug? Wohlstandstreibhäuser kommen doch komplett ohne Kosmologie, ohne Religion und auch ohne schützende Rundungen aus, oder?

Aber was ist, wenn die Keule der Rezession zuschlägt? Wenn die Krise lautstark an alle Türen klopft? Wenn der Wohlstandsmotor nicht nur ins Stottern kommt, sondern völlig aus dem Tritt gerät und die große Honigpumpe ihren Dienst einstellt. Ist der Mensch des Komfortzeitalters überhaupt noch in der Lage solch einen Strömungsabriß zu überstehen? Reicht das psychosoziale Korsett, das die Menschen in früheren Zeiten durch Kriege, Hungersnöte und Seuchenzüge getragen hat, heute noch aus, um einigermaßen ungeschoren durch das Krisental zu kommen?

Stoffwechselmaximierer

Dagegen spricht das seit Jahrzehnten dominierende psychologische Leitbild unserer hochgezüchteten Konsumgesellschaften, das des ich-starken Selbstverwirklichers. In unseren schier grenzenlosen, üppig überquellenden Konsumwelten leben Millionen von Einzelwesen ihren jeweils individuellen Traum vom Glück. Ständig mit Auswahlentscheidungen beschäftigt und angetrieben von unablässig trommelnden Außenreizen bleibt nur wenig Raum für Solidarität. Der moderne Mensch navigiert virtuos in seinem Wünsche-Feld und ringt um Besitz- und Geltungsvorteile gegenüber den Anderen. Es geht zwar auch um Interaktion, aber zumeist in Form von interaktivem Wettbewerb um das größte Auto, die weiteste Reise und den attraktivsten Partner.

In einer solchermaßen strukturierten Lebenswelt fällt es schwer, sich vorzustellen, dass tiefergehende Belastungssituationen adäquat in der Gemeinschaft bewältigt werden können. Wie soll ein Mensch, der einseitig auf Begehren und Konsumieren getrimmt ist, echte Mangelsituationen überstehen? Wo ist da der konstitutive Zusammenhalt, der über das schlichte Zusammenseinsollen hinaus geht? Können sich Millionen von Individuen, die sich in ihren vielgestaltigen Ich-Blasen eingenistet haben, quasi über Nacht zu krisenresistenten, solidarisch handelnden Gruppenmitgliedern entwickeln?

Gemeingeister

Nachhaltig dafür spricht eine tiefer liegende Konditionierung des Menschen durch Vorbilder sowie durch ererbte bzw. überlieferte Handlungsmuster. Trotz der Wohlstandsverwöhnung und trotz der Treibhauslage gibt es auch im Psychohaushalt der westlichen Menschheit so etwas wie ein Krisen-Gen, eine tief sitzende Disposition in unserem kulturellen Gedächtnis, die uns hilft solche Krisenlage zu bewältigen. Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von „ethnosphärischen Klimatechniken“, die Generationen überspannen und einen stetigen Prozeß der Selbstinspiration in Gang halten. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit gelingt es dann selbst Millionen-Populationen sich – unterstützt und getragen von „Gemeingeistern“ – aus Krisenlagen zu befreien.

Ok! Aber beantwortet das unsere Ausgangsfrage? Ist nicht jede Krise für sich genommen besonders? Wenn es diese „Gemeingeister“ tatsächlich gibt, dann scheinen Sie zumindest im globalen Maßstab momentan deutlich zu leise, um gehört zu werden. Die Corona-Shutdown-Krise erfasst quasi jedes Land einzeln. Jeder Staat auf dem Erdenrund kämpft seinen eigenen Kampf gegen das Virus und seine Folgen. Vereinte Nationen, WHO, IWF, WTO ? Alle mit hohem Anspruch und solidarischem Impuls, aber doch nur Rufer am Rande einer von Nationalstaaten dominierten Arena. Selbst das vereinte Europa ringt noch mit sich und hat momentan außer der Ankündigung von unzähligen Hilfsmilliarden nur wenig innere Kohäsion zu bieten. Brüssel – so die sich wiederholende Erkenntnis – bewegt zwar Richtlinien und Verordnungen in der Dauerschleife, schafft auch Geld heran, wenn es sein muss, kann aber das fehlende innereuropäische Feuer nicht wirklich ersetzen.

Gemeinsam hinter der Maske?

Aber noch mal: Wenn uns schon die internationale Solidarität nur in Randbereichen begegnet, so belebt das Virus doch wenigstens die zwischenmenschliche Solidarität, oder? Wir schützen uns gemeinsam! Wir bleiben zu Hause! Wir tragen Maske! Wir gehen gemeinsam auf Distanz! – Wie bitte? Was? Gemeinsam auf Distanz? Maske im Gesicht? Nur noch Augenkontakt! Keine Mimik mehr! Schnell schnell über die öffentlichen Plätze! In Deckung, wenn der Nächste um die Ecke biegt!

Die Ambivalenz des maskenbewehrten „Social Distancing“ könnte nicht offensichtlicher sein. Einerseits Schutz für sich und Andere. Andererseits aber auch Sinnbild für Abwehr, Distanzierung und ein ängstliches „Komm mir nicht zu nah“! Gerade das Letztere muss uns im Blick auf unseren Psychohaushalt, auf das innere Gefüge unserer Soziosphäre Sorgen bereiten. Insbesondere dann, wenn es wirklich so ist, dass wir die Maske buchstäblich erst dann absetzen können, wenn der Impfstoff da ist.

Was ist, wenn der Impfstoff gegen Covid 19 nur annähernd so lange auf sich warten läßt wie der Impfstoff gegen das 2003 erstmals aufgetretene SARS-Virus oder es bei der Entwicklung geeigneter Vakzine um die gleiche zeitliche Wegstrecke geht, wie beim HI-Virus, wo seit den 80er Jahren unablässig, aber bislang ohne durchschlagenden Erfolg geforscht wird?

Dauer(nder)Alarm

Was passiert mit einer Gesellschaft, die über Jahre, möglicherweise über Jahrzehnte hinweg in einem permanenten Alarmzustand gehalten wird? Oder noch deutlicher: Was passiert mit dem geselligen Wesen der Gattung Homo sapiens, wenn „Social Distancing“ hinter der Maske zum Dauerzustand wird? Abwegig, möchte man antworten. Kann doch nicht sein! Das lassen wir nicht zu! – Tatsächlich scheint das – trotz der gewaltigen Dimension der Krise – eher ins Reich der Dystopie zu gehören. Nicht zuletzt wohl auch, weil die Folgen der kollektiven Quarantäne im ökonomischen Bereich immer deutlicher sichtbar werden und wir langsam ahnen, was mit unseren wirtschaftlichen und sozialen Existenzgrundlagen passieren könnte, wenn wir die Daumenschrauben noch einmal in gleicher Weise festziehen.

Mit Kreativität aus der Krise

Das Animal sociale, das steht fest, hat schon ganz andere Krisen überstanden. Und dabei vor allem immer wieder stupende Kreativität bei der Bewältigung komplexer Problemlagen bewiesen. Das macht optimistisch was unsere Resistenz gegen die Schicksals-Prophetie der „neuen Normalität“ angeht und ehrlich gesagt hoffnungsvoll im Blick auf unsere gemeinsame Zukunft.

* Der Übergang vom geo- zum heliozentrischen Weltbild bedeutete nicht nur den Abschied von der Zentrallage der Erde im Mittelpunkt des Universums, sondern auch die Widerlegung des sog. Himmelsschalen-Modells. Die postkopernikanische Astronomie rückte nicht nur die Erde und damit Gottes Schöpfung an die Peripherie, sondern verwarf auch die Vorstellung vom schützenden Schalenmantel, der die Gestirne trägt und die Erdkugel gegen das dunkel-unheimliche Außen abschirmt. Eine größere „Kränkung“ (Freud), als die wissenschaftlich begründete Vertreibung der Menschheit aus der kosmischen Schoßlage, lässt sich kaum vorstellen.