Fahren auf Verschleiß

In diesen Tagen ist viel von “Mobilitätswende” die Rede. Ein Begriff aus dem Subtext der noch viel mächtigeren Energiewende. CO2-lastige Verkehrsträger sollen zugunsten CO2-armer Mobilität zurückgedrängt werden. Klimaschonend soll sie sein, die neue Mobilität. Muskelkraft statt SUV. Bahn statt Auto. Balkonesien statt Malle. Und wenn schon Bewegung im öffentlichen Raum, dann bitte nur mit möglichst kleinem Fußabdruck und auf möglichst leisen Sohlen.

Wie essenziell Mobilität in modernen Volkswirtschaften ist, wird spätestens dann deutlich, wenn die Logistik plötzlich nicht mehr funktioniert. Wenn Waren irgendwo im weitverzweigten Netz der Lieferketten hängen bleiben. Wenn das Bestellte nicht mehr ankommt oder wenn das eine unverzichtbare Bauteil die gesamte Produktion zum Erliegen bringt.

Dass hier momentan der Wurm drin ist, dürfte mittlerweile jedem von uns schon irgendwo aufgefallen sein. Sei’s nur am Supermarktregal oder im Baumarkt am Tresen.

Verschleißerscheinungen

Richtig heftig wird die Sache jedoch erst, wenn man sich aktuell selbst auf den Weg machen will. Was Otto Normalbürger an dieser Front momentan erlebt, stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten. Es ist nicht übertrieben in diesem Zusammenhang von einem drohenden Kollaps der öffentlichen Mobilität zu sprechen.1

Wer Zeuge dieses Kollabierens werden will, braucht momentan nur auf einen x-beliebigen deutschen Bahnhof oder auf einen der großen Flughäfen der Republik zu gehen. Die erschütternden Szenen, die sich hier aktuell abspielen, hätte man wohl noch vor kurzem nur am Zentralbahnhof von Mumbai oder am Flughafen von Lagos vermutet.

Bis zum Bersten vollgestopfte Zugabteile, hoffnungslos überfüllte Abfertigungsschalter, schier endlose Wartezeiten auf Züge, die einfach nicht kommen wollen. Und massenhaft Koffer, die irgendwo im Nirvana der rotierenden Gepäckbänder verschwinden…!

9-Euro-Ticket und Personalnot

Zunächst war der Reisende noch geneigt das traurige Schauspiel als vorübergehende Folge des 9-Euro Tickets abzubuchen. Wenn plötzlich auch diejenigen Bahn fahren, die vorher noch im Kurzstreckenflieger saßen oder das Auto benutzten, wird es halt voll im Abteil. Da kann man nichts machen. Da muss man durch.

Und auch an den Flughäfen schien ja manches durch Corona erklärbar: Fluggesellschaften und Flughafenbetreiber, die in der Pandemie mit deutlich weniger Passagieren auskommen mussten, haben massenhaft Personal frei gestellt, das sich nun einfach nicht kurzfristig wieder am Arbeitsplatz einfinden will. Da bleibt schon mal ein Schalter geschlossen, ein Flugzeug im Hangar oder ein Koffer im Flugzeugrumpf. Da kann man nichts machen. Da muss man mit leben.

Dauerstau

Unangenehm wurde es erst als die Verspätungen zur Regel, die kaputten Oberleitungen zum Dauerproblem und die belagerten Schalter an den Flughäfen chronisch wurden. Als dann auch noch die Unternehmenslenker und ihre Belegschaftsvertretungen selbst mit Hiobsbotschaften an die Öffentlichkeit gingen, wurde klar, hier läuft nicht nur temporär was schief, hier liegt strukturell etwas massiv im Argen.

Besonders hervorstechend sind in diesem Zusammenhang die aktuellen Äußerungen führender Gewerkschaftsvertreter zu den Zuständen bei der Bahn. Vom “Saftladen” ist da die Rede. Von einem bisher historisch einmaligen “Super-Gau” bei der Bahn. “Defekte Aufzüge, Toiletten die nicht funktionieren und Personal an der Belastungsgrenze”, so Claus Weselsky, der Vorsitzende der deutschen Lokführergewerkschaft GDL. 2

Dieser verbale Frustabbau dokumentiert mehr als nur Ernüchterung. Er wirkt wie ein Hilferuf aus dem Innenleben einer Institution, die jahrzehntelang auf Verschleiß gefahren wurde und die in ihrer Grundsubstanz kurz vorm Offenbarungseid zu stehen scheint.

Politische (In-)Konsequenzen

Wie reagiert nun die amtierende Bundespolitik auf diese Alarmmeldungen? Welche Konsequenzen zieht das Bundesverkehrsministeium aus dem mittlerweile allzu Offensichtlichen? Die Ampel will – ja sie lesen richtig – die Fahrgastzahlen im Schienenverkehr bis zum Jahre 2030 auf etwa 2,8 Milliarden Passagiere verdoppeln. Statt 1,4 Milliarden, wie 2021, sollen schon in acht Jahren doppelt so viele Fahrgäste mit der Deutschen Bahn transportiert werden.

Auf den ersten Blick wirkt das wie ein phantasievoller Satire-Coup, ein schlechter Scherz von Menschen, die sich bei der Bewältigung der täglichen Mobilität auf hoch motorisierte Fahrbereitschaften verlassen können.

Investitionsstau

Nüchterne Fakten jedenfalls scheinen bei solchen Zielprojektionen aktuell keine nennenswerte Rolle zu spielen. Allein im Juni 2022 sollen sage und schreibe 42 % aller Fernzüge in Deutschland mit z.T. beträchtlicher Verspätung in deutsche Bahnhöfe gerollt sein. Spitzenreiter dabei waren die Verkehrsknotenpunkte Frankfurt-, Mannheim- und Köln-Hauptbahnhof. Während in Ländern wie Japan oder Frankreich Schnellzüge längst auf separaten Streckennetzen verkehren, müssen sich in Deutschland die ICEs immer noch ihre Gleise mit regionalen Bummelzügen teilen.

Die Parallelen zu den gravierenden Problemen bei der sog. Energiewende sind unübersehbar. In beiden Fällen werden vielfach weltanschaulich getriggerte Erwartungen in eine Jahrzehnte lang vernachlässigte oder gar bewusst zurückgebaute Infrastruktur projiziert. Infrastrukturelle Wirklichkeit trifft auf einen ideologisch überfrachteten Erwartungshorizont. Die Infrastruktur geht angesichts der Überforderung in die Knie.

Statt zukunftsfester Konzepte für eine solide Energie- und Mobilitäts-Infrastruktur, bekommen die nach Orientierung suchenden Nutzerinnen und Nutzer, bürokratische Feinsteuerung über Emmissionsquoten geliefert. Was auf der Strecke bleibt, ist  Versorgungsicherheit und politisches Grundvertrauen.

Rückbau ohne echten Ersatz

Während im Zuge der Energiewende reihenweise Grundlastkraftwerke vom Netz gingen, reduzierte sich das Streckennetz der Deutschen Bahn seit 1955 um nicht weniger als 15.000 km. Damit wurde in West-und Ostdeutschland vom ursprünglichen Bestand jeder vierte Streckenkilometer eingemottet.

Nahm der Güterverkehr seit 1995 um rd. 84 % und der Personenverkehr um mehr als 40 % zu, reduzierte sich im gleichen Zeitraum das Schienennetz um gut 15 %. Während die Pro-Kopf- Investitionen des Staates in die Schieneninfrastruktur im Jahre 2020 zum Beispiel in Schweden 220 €, in Österreich 250 € und in der Schweiz sogar 440 € betrugen, lag dieser Wert in Deutschland gerade einmal bei 88 €.  Die unausweichliche Folge: eine chronische Unterfinanzierung des Netzausbaus.

Anspruch trifft auf Wirklichkeit

Ähnlich lief die Entwicklung im Bereich der Energieversorgungsinfrastruktur. Allein zwischen 2016 und Ende 2021 wurden in Deutschland Kraftwerkskapazitäten in einer Größenordnung von 20.000 MW abgeschaltet. Weitere Kapazitäten sollen in den nächsten Jahren – wenn Putin es erlaubt –  in rascher Folge ebenfalls in Alteisen verwandelt werden.

Was für die Bahn das hochsubventierte 9-Euro-Ticket ist für die Energieversorgung das über die Stromrechnung subventionierte Windrad.  Während bei der Bahn immer noch Fahrpläne aushängen, die längst keinen Niederschlag in der Wirklichkeit mehr finden, tritt im Energiesektor an die Stelle einer zuverlässigen 24/7-Grundversorgung über Kohle, Gas oder Atomkraft, ein unzuverlässiger Mix aus “Flatterstrom” und importiertem Atom- und Kohlestrom.

Letzte Ausfahrt nicht verpassen

Das Verblüffende an alldem ist, dass sich trotz der offensichtlichen Misere aktuell kaum Widerstand regt. Während das medial besungene Wolkenkuckucksheim mittlerweile überzulaufen droht, ruckelt das überstrapazierte Gefährt unverdrossen durch die karge Tiefebene.

Wenn nicht alles täuscht, könnte die nächste Steigung – “Gaskrise” im Winter – das komplette System zum Stehen bringen. Noch gibt es Hoffnung auf eine zumindest partielle Kursänderung. Vor allem führende Politiker aus den südlichen Bundesländern Bayern und Sachsen machen sich lautstark bemerkbar. Ihr vernehmbarer Appell: Das Entgleisen des Zuges muss unter allen Umständen verhindert werden.

1 Im Folgenden stehen vor allem die Probleme bei der Bahn-Infrastruktur im Mittelpunkt. Wie schlecht es um die Straßeninfrastruktur in Deutschland bestellt ist, dokumentiert exemplarisch die immer mehr ausufernde Baufälligkeit deutscher Autobahnbrücken. Ein besonders extremes Beispiel hierfür ist die Rahmedetalbrücke bei Lüdenscheid an der stark befahrenen Sauerlandlinie (A 45). Die morode Brücke ist seit fast 8 Monaten gesperrt und der gesamte Schwerlastverkehr wird über Nebenstrecken umgeleitet. Zwischenzeitlich gehen auch die Nebenstrecken und die Bahnverbindungen in der betroffenen Region in die Knie.

2 Martin Burkert, der stv. Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG ließ kein gutes Haar am 9-Euro-Ticket und ergänzte Weselsky mit der Wendung: “Ich habe solche Zustände wie im Sommer noch nie erlebt. Das 9-Euro-Ticket macht krank.”