Das große Levitationsprojekt

Seit den frühen Anfängen der abendländischen Zivilisation träumen die Menschen des Westens einen phantastisch anmutenden Traum – den Traum von der Überwindung der Schwerkraft. Zunächst nur vage inspiriert durch die fast mühelos in luftigen Höhen kreisenden Vögel, dann mythologisch untermauert durch Legenden wie die vom wagemutigen Ikarus. Im christlich geprägten Mittelalter schließlich genährt durch eine Art transzendente Himmelsstürmerei angetrieben von Theologen und gläubigen Visionären. Erstmals einigermaßen konkret wurde dieser Traum im Zeitalter der Renaissance, wo Universalgelehrte wie Leonardo da Vinci mit dem Zeichenstift erste handfeste Blaupausen für die fliegerische Zukunft der Menschheit markierten. Dass es von da ab noch mal fast 400 Jahre dauerte, bis sich der erste Mensch kontrolliert in die Lüfte hob, war wohl dem Umstand geschuldet, dass zu einem einsatzfähigen Fluggerät auch ein leistungsstarker Antrieb gehört, der erst im (industriellen) Maschinenzeitalter das Licht der Welt erblickte.
Dieser lange Levitations-Prozess, der schließlich mit dem Jungfernflug der Gebrüder Wright im Jahre 1903 einem ultimativen Höhepunkt entgegenstrebte, ist auch heute gut 100 Jahre später nicht vorbei, scheint aber Anfang des 21. Jahrhunderts – im Schatten der Routinen des Raketen- und Jet-Zeitalters – ein neues, andersartiges Experimentierfeld gefunden zu haben. Nachdem die Himmelsstürmer der entwickelten Welt die dritte Dimension technologisch durchdrungen und buchstäblich erobert haben, hat die Suche nach der Zauberformel für die Überwindung der Schwerkraft auf dem weiten Felde der Geldwirtschaft begonnen. Die Zauberlehrlinge auf diesem Felde sind nicht mehr die Flugingenieure, Piloten und Astronauten, sondern die Notenbankgouverneure und ihre politischen Sekundanten. Eine neue ikarische Elite, die sich nicht mehr mit der schlichten Eroberung des Luftraums zufrieden geben will, sondern die scheinbar festen Willens ist, die elementare Bodenhaftung des Zins- und Kreditstresses zu eliminieren. Seit dem ersten Zusammentreffen von Gläubigern und Schuldnern und seit den ersten Gehversuchen der modernen Kreditwirtschaft im 16. Jahrhundert war es ehernes Gesetz, dass Sparen, d.h. Konsumverzicht, mit einem Guthabenzins belohnt und im Gegenzug die Geldleihe bzw. das Kreditnehmen mit einer risikoorientierten “Leihgebühr” und einem Tilgungsanspruch belegt wird. Wer Kredite aufnahm, um sich Konsumwünsche in der Gegenwart zu erfüllen oder risikobehaftete Investitionen zu finanzieren, war unweigerlich einem systemimmanenten Zinsstress ausgeliefert. Etwas anderes war weder vorstellbar noch sinnvoll, denn wer anders als der Zins sollte die Möglichkeit schaffen, riskante von weniger riskanten Investitionen zu unterscheiden und den Druck auf die Schuldentilgung hoch zu halten.*
Heute mitten im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts tun Draghi, Yellen und Co. alles um diesen Mechanismus außer Kraft zu setzen: Leitzins und damit Hauptfinanzierungssatz für die Geschäftsbanken bei 0 Prozent; Strafzins der EZB für Bankeinlagen bei -0,4 Prozent. Parallel dazu exorbitante Aufkaufprogramme für Staats- und Unternehmensanleihen in einer Größenordnung von 80 Mrd. € im Monat, vor allem um die hoch verschuldeten Staaten des europäischen Südens kreditwirtschaftlich zu entlasten. Nach den aktuellen Plänen der EZB werden bis Ende März 2017 Wertpapiere mit einem “Buchwert” von über 1.740.000.000.000 € in den Tresoren der EZB aufgelaufen sein. Alles Maßnahmen, um den Zins- und Tilgungsdruck zu vermindern und die Staats- und Privatschuldner durch immer neue “Luftbuchungen” vor echten Strukturreformen zu bewahren.
Mittlerweile zeigt dieses bisher in der Menschheitsgeschichte einmalige Mega-Experiment auf den Märkten Wirkung. Aber nicht so, wie die Geldjongleure in Frankfurt, Washington und Tokio sich das vorgestellt haben, sondern wie es viele skeptische Ökonomen seit geraumer Zeit vorher gesagt haben. Trotz der Flutung der Märkte mit “leichtem Geld” zeigt sich an der (realwirtschaftlichen) Konjunkturoberfläche nur ein leichtes Kräuseln der Investitionswellen. Die große Masse der Geldflut fließt in eine “Vermögenspreisblase”, die nach einigen zyklischen Kontraktionen (Dotcom-Blase 2000; Immobilien-Blase 2007/08) der ultimativen “Zentralbank-Blase” zustrebt. Völlig aus dem Ruder laufende Bond-, Aktien- und Immobilienmärkte, die sich aus immer neuen Zentralbankmilliarden speisen und Kurswerte bzw. Immobilienpreisbildungen, deren reale Werthaltigkeit grundsätzlich in Frage steht.
Wann erkennen die Verantwortlichen endlich, dass sich die Ökonomien des entwickelten Westens auf einer schiefen Ebene befinden und es höchste Zeit ist, das gefährliche Levitationsprojekt zu stoppen? Ohne einen funktionierenden Zins- und Kreditmechanismus werden lebenswichtige Knappheitssignale falsch gesetzt und Kapitalströme systematisch in unrentable Kanäle gepumpt. Es wird höchste Zeit zum Entzug! Die Entwöhnung vom Rausch der Gelddrogen ist überfällig! Anti-Gravitation funktioniert auch in der Luft- und Raumfahrt nur durch gewaltige Antriebsenergien. Wenn die verpufft sind, geht der Flieger zu Boden.

* Die öffentlichen und privaten Schuldenberge haben sich in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht. Mittlerweile erreicht die weltweite Schuldenlast einen Rekordwert von rd. 330 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Das sind 40 Prozent (!) mehr als Ende des 20. Jahrhunderts.