Lichtgestalten und Dunkelmänner

Selten zuvor gab es eine Zeit, die auf derart frappierende Weise von schlichten Gut-Böse-Rastern geprägt war. Wenn einmal in fernerer Zukunft nachfolgende Generationen auf unsere Gegenwart zurückschauen, dann werden sie sich nicht nur verwundert die Augen reiben, sondern einigermaßen entsetzt die Frage stellen, was hat die Menschen damals dazu gebracht derartig hemmungslos zu polarisieren und verbal aufeinander einzuschlagen? Wer in diesen Wochen die Zeitungen aufschlägt und durchs Internet surft, findet fast nur noch Schwarz oder Weiß. Kaum noch Grautöne, aber ganz viel Schwarz-Weißmalerei. Statt abgewogene Analyse, fast nur noch wilde Verwünschungen und heftige Tiefschläge, weitgehend ohne Pardon und auch ohne Stil und Etikette.

Andersdenkende als Sparringspartner

Was geht da vor sich? Warum haben wir es auf so eklatante Weise verlernt, den Andersdenkenden als Sparringspartner auf Augenhöhe zu behandeln? Und vor allem: Warum sind unsere holzschnittartigen Schwarz-Weiß-Debatten derzeit so gnadenlos personalisiert? Warum ist die Neigung so groß ständig neue „Lichtgestalten“ zu küren und sich Tag und Nacht an immer neuen „Dunkelmännern“ zu reiben? Warum sind Barack und Michelle immer nur gut und Donald im Gegensatz dazu immer häßlich und böse? Warum ist alles, was aus dem Kreml kommt dunkel und schattenhaft und alles, was aus dem Kanzleramt und seit neuesten aus Martins Willy Brandt-Haus an unser Ohr dringt, so hell und zukunftsträchtig?

Hell-Dunkel-Spiele

Um dieses merkwürdige Hell-Dunkel-Spiel verstehen zu können, muss man mehr erfahren über eine ganz und gar basale menschliche Disposition, die historisch betrachtet ihren Ursprung zweifellos im stark religiös geprägten Mittelalter hatte. Kaum eine Epoche der Menschheitsgeschichte war auf solch nachdrückliche Weise „manichäisch“ geprägt, wie die rd. 1000 Jahre (500-1500) der sog. „middle ages“. In dieser Zeit der alles durchdringenden religiösen Inbrunst unterlag buchstäblich alles der gnadenlosen Polarität zwischen Himmel und Hölle. Es war das eigentliche Kern-Zeitalter des Entweder-Oder. Entweder gottgefällig oder gottlos, entweder Paradies oder Inferno oder noch schlichter: Entweder gut oder böse! Die Welt dazwischen war nicht mehr als ein dunkles Jammertal, eine Art schmachvolle Vorhölle, angefüllt mit Angst, seelischer Not und ständiger Aufforderung zur Buße.

Roll Back des Entweder-Oder

Nun liegen diese ganz besonders dunklen Zeiten – Gott sei es gedankt – glücklicherweise hinter uns. Die Renaissance, die Aufklärung und die industriell-technische Revolution haben uns weitgehend aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit und uns gelehrt, uns unseres Verstandes zu bedienen. Die schon in der Antike vorhandene Multipolarität des Denkens kehrte zurück und half uns das alte bipolare Weltbild zu verdrängen und durch eine plurale Sichtweise auf unser Dasein zu ersetzen. Wie prekär dieser mühsam gefundene pluralistische Konsens war, offenbarten die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts. Ihr Absolutheitswahn stand dem der radikal-religiösen Monotheismen in den Jahrhunderten zuvor in nichts nach. Zwar konnte auch dieses fatale Roll back des gnadenlosen Entweder-Oder überwunden werden, aber nur mit unglaublicher Anstrengung und unter Inkaufnahme gewaltiger Opfer.

Heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, scheint die Geißel des Manichäischen, trotz gewaltiger Triumphe des Pluralismus in der Nachkriegszeit, wieder ihr Haupt hervor zu recken. Und zwar auf einem Terrain, wo wir es sicher nicht vermutet haben, nämlich in den Kernzonen des entwickelten Westens. Was sich da zu formieren beginnt, ist zwar weder religiös-fundamentalistisch noch totalitär, aber nicht weniger bedenklich im Blick auf den inneren Zusammenhalt der großen westlichen Populationen. Nichts trägt mehr zur Vertiefung der Gräben bei, als diese neue, abgewandelte Form des kompromisslosen Entweder-Oder.
Warum schaffen wir es einfach nicht, uns von diesem Fluch zu befreien. Warum kehren wir, trotz gewaltiger Fortschritte in der sozialen Kommunikation, immer wieder in das wiedergängerische Reich des Absoluten zurück? Warum ist unser Verlangen – trotz der Emeritierung der Heiligen und ihrer teuflischen Widersacher – nach dem personifizierten Guten und dem fleischgewordenen Bösen immer noch so ausgeprägt?

Heilige Schriften und reine Wahrheiten

Mir fällt – bezogen auf den politischen Raum – hierzu vor allem eine Erklärung ein, nämlich der hartnäckige Fortbestand eines immer noch geschichtsmächtigen Absolutheitsanspruchs auf die eine, unteilbare Wahrheit. Wie in unseren Heiligen Schriften, unseren Heldenlegenden, unseren Volksmärchen und unseren Lieblingsfilmen wollen wir trotz einer komplexen Wirklichkeit auf „reine Wahrheiten“ und einfach erklärbare Gut-Böse-Schemata einfach nicht verzichten. Die Vorstellung, dass unsere Spitzenpolitiker weder Heroen noch Teufel, sondern fehlbare Grenzgänger zwischen Gut und Schlecht sind, will vielen von uns einfach nicht einleuchten. Stattdessen neigen wir – angetrieben durch robuste mediale Verstärker – dazu, Politiker entweder maßlos zu überhöhen und abgrundtief zu verdammen. Statt zu analysieren und differenziert-kritisch auf die tatsächlichen Ergebnisse politischen Handelns zu schauen, wird gnadenlos moralisiert und wenn nötig hemmungslos gemobbt.

Postfaktisch ist immer der Andere

Und das Verblüffende ist, die beiden Lager, die sich immer hermetischer voneinander abgrenzen, merken noch nicht einmal, dass sie das, was sie an der anderen Fraktion so harsch kritisieren, ständig selber praktizieren. Das „Merkel muss weg“ entspricht haarklein dem Slogan „Trump, not my president“. Das Weglassen oder Verbiegen von Fakten, entweder aus politisch-therapeutischen oder machttaktischen Gründen, praktizieren beide Seiten z.T. bis zum Exzess, sehen aber das vermeintlich „Postfaktische“ immer nur bei den Andersdenkenden. Jeder verortet den Anderen wechselseitig in der Rolle des „Lügners“, verkennt dabei aber, dass er ständig seine eigene Meinung als ultimative Wahrheit überhöht.

Ausloten des Menschenmöglichen

Es wird höchste Zeit das gefährliche Spiel mit dem bipolaren Feuer zu beenden und zurück zu kehren zur nüchternen Analyse und zum abwägenden Urteil. Wer gedanklich immer nur „wertet“ und reflexartig fast jede abweichende Meinung „abwertet“, verliert den Blick für die Wirklichkeit. Nicht das Gegeneinander-Ausspielen von „Lichtgestalten“ und „Dunkelmännern“ löst die Probleme, sondern das ständige Ausloten des „Menschenmöglichen“ in den Untiefen unserer komplexen politischen Wirklichkeit.