Easy money

Wenn man namhaften Wirtschaftsauguren Glauben schenken darf, dann stehen momentan weite Teile der westlichen Welt, allen voran Deutschland, im Vorhof des Paradieses. Die Volkswirtschaften brummen, die Beschäftigung steigt unablässig und der internationale Handelsaustausch eilt von Rekord zu Rekord. Und im Hintergrund sprudelt aus schier unerschöpflichen Quellen monetäres Manna im Überfluß. – Ist das Realität oder nur ein trügerischer Traum? Vor allem: Was hat es mit der gigantischen Geldschwemme auf sich? Können wir wirklich gefahrlos ohne Zins leben? Geht das? Ökonomien ohne Zinsstress im Zustand der Schwerelosigkeit?

Wer den seit 2008 andauernden Mega-Feldversuch der Europäischen Zentralbank und der Notenbanken in den USA und in Japan aus der Nähe verfolgt, der gewinnt unweigerlich den Eindruck, hier sei tatsächlich so etwas im Gange wie ein überdimensionales Levitationsprojekt. In bisher für unmöglich gehaltenem Ausmaß betreiben Draghi, Yellen & Co. das Spiel der Flutung der Märkte mit Liquidität. Unter dem Leitmotto “Quantitative Easing” schaltet sich die EZB sogar in die Staatsfinanzierung ein und bläht die Notenbankbilanz durch den Ankauf von Staatsanleihen jeden Monat um rd. 60 Mrd. € auf. Parallel werden die Leitzinsen auf die O-Linie gedrückt und dort festgezurrt. Die lapdiare Begründung: Solange die Inflationsrate niedrig bleibt und die Hochschuldenländer nicht aus dem Gröbsten raus sind, läuft die Geldpresse und bleibt der Zins bei O. (Draghi: “We save the Euro, whatever it takes!”)

Was sich wie ein ökonomisch-humanitäres Mantra der Staaten- und Bankenrettung anhört, geht in seinen Wirkungen weit über das übliche Maß der monetären Marktbeeinflußung hinaus. Der für eine moderne Volkswirtschaft elementare Zinsmechanismus wird restlos ausgehebelt. Waren in früheren Zeiten die Zinsen unverzichtbare Sensoren für die Präferenzen von Staaten, Unternehmen und Konsumenten, so sind sie heute durch die Flutung der Märkte mit ultraleichtem Geld nur noch dramatisch verzerrte, hektisch blinkende Leuchtsignale am Ende eines langen Tunnels. Weitreichende Folgen hat das vor allem für Unternehmen. Solange der Zinsmechanismus funktionierte, lieferten steigende und fallende Kreditzinsniveaus die unverzichtbare Grundlage für die notwendigen Rentabilitätsberechnungen. Die Zinshöhe stand für die Knappheit der Finanzmittel und das Investitionsrisiko. Sobald sich eine Investition als unrentabel erwies, schlug die Zinspeitsche gnadenlos zu. – Und wo stehen wir heute? Von diesem zentralen Koordinatensystem der zinsgestützten Regulierung von unternehmerischen Investitionen ist so gut wie nichts mehr übrig geblieben. Die Ampel ist ausgestaltet und auf der dicht befahrenen Kreuzung fahren die Investoren orientierungslos hin und her. Darunter viele eigenkapitalstarke, wettbewerbsfähige Unternehmenslenker, aber auch unzählige Vehikel ohne (Finanz-)TÜV-Plakette und mit schwarzen Rußfahnen, die längst hätten aus dem Verkehr gezogen werden müssen. Zombi-Unternehmen, nicht nur aus dem Bankensektor, sondern aus allen Teilen der Wirtschaft, die ohne Niedrigzins und ohne ultraleichtes Geld längst vom Markt verschwunden wären.

Noch größer ist die Desorientierung bei den Konsumenten und (Klein-)Sparern. Gab es früher noch einen nennenswerten Sparzins, der Anreize zum Verzicht auf Gegenwartskonsum setzte, stehen heute die zinspolitischen Zeichen vollständig auf forciertes “Entsparen” und möglichst schrankenloses Konsumieren. Angetrieben von der Parole: “Geld ist genug da, bedient Euch und beeilt Euch es auszugeben!” löst eine Konsumwelle die nächste ab und läßt die Wirtschaftsanalysten in den Wonnen der Konsumkonjunktur schwelgen. Andererseits – und das macht die Verwirrung restlos komplett – vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Politiker die “Menschen draußen im Lande” auffordert, endlich mehr für die private Altersvorsorge zu tun. Wie das ohne Anreize und mit mikroskopisch kleinen “Sparprämien” gelingen soll, davon redet niemand. Und auch über die faktische Enteignung der Sparer – angesichts von Niedrigzins und steigender Inflationsrate – hört man so gut wie nichts.*

Die einzige Akteursgruppe, die scheinbar vollumfänglich von der Geldflut und dem Verschwinden des Zinses profitiert, ist die der “öffentlichen Hand”. Wann gab es das schon einmal: Refinanzierung staatlicher Ausgaben über Staatsanleihen mit Null-, ja sogar Negativverzinsung.  Welch extreme Auswüchse das zeitigt, läßt sich besonders deutlich an den Kapriolen der Griechenland-Rettung ablesen. Nach den gegenwärtigen Analysen der große Rating-Agenturen müsste der griechische Staat seinen Kreditgebern momentan zweistellige Risikoaufschläge zahlen, um überhaupt noch an Kredite zu kommen. Stattdessen gewährt der ESM (“European Stability Mechanism”) den Hellenen Milliardenkredite zum Zinssatz von 1 % mit einer Laufzeit von 30 (!) Jahren. Und all das bei einer stetig weiter steigenden Staatsverschuldung, die sich mit großen Schritten der 200 %-Marke (Staatsschulden in Relation zum BIP) nähert.

Also, Schlaraffia für öffentliche Haushälter? Sanktionslose Überschuldung als Dauerzustand? Und freies Spiel am Kreditmarkt ohne Reue? – Nur dem Anschein nach! Denn was sich da als gigantische “Vermögensblase” am Horizont der Geld- und Kreditmärkte abzeichnet, wird unweigerlich auch auf die öffentlichen Haushalte durchschlagen. Wenn Aktienindices durch die Decke schießen, Immobilienpreise in Ballungsräumen in astronomische Höhen klettern und die Zentralbanken das Gaspedal durchtreten, dann mag das auf den ersten Blick wie ein handfester “Wirtschaftsboom” aussehen. Bei genauerem Hinsehen stehen wir jedoch genau wieder da, wo wir vor rund 10 Jahren standen, nämlich kurz bevor die letzte Vermögensblase platzte und uns der letzte “Boom” um die Ohren flog.

Solange wir immer noch glauben, Wirtschaftskrisen kämen als Verknappungskrisen zu uns und seien Ausfluß von Hunger und Not, laufen wir den eigentlichen Problemen ständig hinterher. Beinahe alle Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte waren Finanzkrisen, die als Überkonsumtionskrisen zu uns kamen und unmittelbar etwas mit ausufernder Geldvermehrung und lascher Geldpolitik zu tun hatten. Der Zins ist nun mal der wichtigste Preis einer Volkswirtschaft – nämlich der Preis fürs Geld und damit die einzige handfeste Informationsquelle für die wahren Präferenzen der Wirtschaftssubjekte. Wer den Zinsmechanismus lahmlegt, produziert nicht nur Orientierungslosigkeit, sondern schafft unabsehbare Risiken für die Stabilität unserer Volkswirtschaften. Eine Ökonomie ohne Zins ist eine Ökonomie ohne Steuerung, die sich von ihrer Leitzentrale abgekoppelt hat und sich blind und schwankend am Abgrund entlang tastet. – Kehren wir um, bevor es zu spät ist!

* Laut aktuellen Schätzungen der DZ Bank gingen dem deutschen Sparer durch die Niedrigzinspolitik der EZB in den Jahren 2010-2017 (einschl. Prognose für laufendes Jahr) rd. 250 Mrd. Euro netto verloren. Die Kreditzinsersparnis ist hier bereits abgezogen.