Wahlnachlese

Demokratische Wahlen – man kann es gar nicht oft genug betonen – sind Taktgeber und Motoren moderner Gesellschaften. Ohne ein freies, gleiches und geheimes Wahlrecht bliebe die Legitimation politischen Handelns blasse Makulatur. Am 26. September war es in Deutschland mal wieder soweit: Der Souverän konnte sein Votum abgeben und über bundesweite Wahlen die Weichen für die nächsten vier Jahre stellen. Für was hat er sich entschieden, der Wähler? Für Kontinuität oder Veränderung? Waren die Signale, die er ausgesandt hat, stark genug, um bei den Gewählten bzw. Nichtgewählten Wirkung zu hinterlassen? Wer hat gewonnen, wer hat verloren? Und vor allem, wer kann nach diesem Wahlentscheid Anspruch aufs Regieren erheben?

Wer einen Eindruck davon gewinnen will, wie schwer es sein kann, Wählervoten zu interpretieren, muss nur die Nachwahlberichterstattung der letzten Tage verfolgen. Selbst die, die behaupten, klare Schlußfolgerungen aus dem Wahlergebnis ziehen zu können und dabei frank und frei vorgeben aus den Balkendiagrammen eine klare „Richtung“ ableiten zu können, verheddern sich rasch in einem bunten Gewirr aus oft widersprüchlichen Interpretationsversuchen.

Wer oder was wurde gewählt?

Fangen wir mit der wohl wichtigsten Frage an: Wurde die Merkel -Ära am 26. September abgewählt oder wurde lediglich ein Auftrag zum „Weiter so“ erteilt? – Naja, wenn Merkels Finanzminister und Vizekanzler der 9. Kanzler der deutschen Nachkriegsrepublik werden sollte, ist die Kontinuität doch wohl gesichert, oder? War die Raute, mit der er sich im Wahlkampf demonstrativ ablichten ließ, nicht ein unübersehbares Richtungssignal? Und überhaupt, was unterscheidet die Programmatik von Olaf Scholz und den beiden anderen „Kanzlerkandidaten“ von der Grundausrichtung des letzten Merkelkabinetts? Sind Laschet und Baerbock nicht auch nur in der Wolle gefärbte Merkelianer?

Neustart?

Also doch Kontinuität, oder wie? – Aber was hat es dann auf sich mit den medial flächendeckend kolportierten „Neuanfangssignalen“? Von wegen „frischer Wind“, von wegen „Erneuerungskoalition“, von wegen „Neuer Aufbruch“? Und dann auch noch die flippigen Selfies mit den Vieren von der gelb-grünen Bundestagstankstelle?*

Also was nun: Ein schnödes Weiter so oder doch ein Aufbruch zu neuen Ufern? – Kommt einfach auf die Perspektive an und schlicht auf die Frage: Was muss sich wie und welchem Maße ändern, damit die Menschen die Veränderung überhaupt als etwas Neues wahrnehmen?

Winner or Loser?

Aber klare Gewinner und Verlierer haben wir doch wenigstens, oder? – Naja, auch nur bedingt! So liegt beispielsweise die SPD zwar mit 25,7 %, anderthalb Prozentpunkte vor der Union und entsendet damit die stärkste Fraktion in den Bundestag. Dennoch fährt die „alte Tante“ damit das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte ein.

Selbst der allerorten beschworene „Sieg“ des SPD-Spitzenkandidaten dürfte sich rasch relativieren, wenn die dezidiert linke Parteiführung um das Duo Esken/Walter-Borjans nach Monaten der „Klausur“ aus der Deckung kommt und ihre „Belohnung“ für den Wahlsieg einfordert. Das aktuell noch Schillernde rund um den „Wahlsieger“ Olaf Scholz dürfte sich dann möglicherweise rasch in mattes Grau verwandeln.**

Grün! Grüner wirds nicht!

Und die Grünen? Was ist mit den Grünen? 14,8 Prozent können zweifellos als Erfolg verbucht werden. Das sind 6 Prozentpunkte mehr als vor vier Jahren (2017: 8,9 %) und damit endlich nicht mehr die rote Laterne im Bundestags-Ranking, sondern Platz 3, also auf dem Treppchen.

Doch so sehr sich der mediale Mainstream bemüht, diesen Erfolg zu einem glänzenden Sieg hochzuschreiben, bleibt nicht nur beim außenstehenden Betrachter, sondern auch innerparteilich genug Raum zum Wunden lecken. Noch im Mai des laufenden Jahres lagen die Grünen in den Umfragen bei sage und schreibe 28 % (!), also fast bei dem Doppelten des aktuellen Ergebnisses. Der Baerbock-Effekt und wohl auch das indifferente Verhältnis zur Rot-Grün-Dunkelroten Koalitionsoption haben den Grünen auf den letzten Wahlkampf-Metern offensichtlich mächtig Stimmen gekostet.

Ganz rechts und ganz links?

Aber zumindest die AfD hat doch klar verloren, oder? 2017 noch 12,6 % und jetzt nur noch 10,3 %. Vorher noch Nr. 3 im Bundestags-Ranking und stärkste Oppositionsfraktion und jetzt nur noch Platz 5. Ok, ist richtig, aber wie lassen sich dann die 16 Direktmandate in den neuen Ländern interpretieren? Hatten die nicht letztes Mal nur 3 Direktmandate? Und waren die „Blauen“ nach dem medialen Dauerbombardement der letzten vier Jahre nicht der geborene Ausstiegskandidat? Und nun immerhin noch 4,8 Millionen Wähler und über 10 % der Stimmen? Sehen so Verlierer aus?

Und die Linke? Was ist mit der Linken am anderen Ende des politischen Spektrums? Sind deren Verluste von über 4 Prozentpunkten auf unter 5 % der Wählerstimmen nicht eindeutig als Niederlage zu werten? Einerseits sicher, aber wer dann – dank einer Wahlrechtsanomalie – über die Brücke von drei Direktmandaten doch noch mit 39 Abgeordneten, das heißt, mit mehr als 5 % der Sitze, in den Bundestag einzieht, kann sich wahrlich nicht beklagen.***

FDP is back!

Also bleiben noch FDP und Union. Das Wahlergebnis der Freien Demokraten wird in den Medien unisono als Erfolg gewertet. Wohl weniger wegen dem rein rechnerischen Zuwachs selbst, denn der lag gerade einmal bei + 0,7 %, sondern wegen der mittelfristigen Perspektive, die in dem Wahlergebnis steckt: Stärkste Partei bei den Erstwählern**** und Zünglein an der Waage im Koalitionspoker. Die wichtige Scharnierfunktion der 92 FDP-Abgeordneten am Kreuzungspunkt der beiden aussichtreichsten Koalitionsoptionen (Ampel oder Jamaika) verleiht den Freien Demokraten eine Sonderstellung im neu gewählten Parlament. Hier geht ohne die FDP, ohne Christian Lindner, buchstäblich nichts.

Der Wahlverlierer!

Das einzige Ergebnis der Bundestagswahl 2021, dass kaum Interpretationen zulässt bzw. an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt, ist das Wahlergebnis der Union. Während die anderen Parteien mit ihren Gewinnen und Verlusten noch irgendwo zwischen Baum und Borke gelandet sind, wurde der Unionsbaum glatt gefällt.

Mit gerade einmal noch 24,1 % haben CDU und CSU das mit Abstand schlechteste Ergebnis ihrer Partei(en)geschichte „eingefahren“. Sogar im Vergleich zur ersten Bundestagswahl im Jahre 1949, nach der sage und schreibe 11 Parteien in den Bundestag einzogen und Adenauer die Union nur mit Mühe über die 30 %-Marke hieven konnte, sackte die eigentliche Gründungspartei der Republik noch einmal weiter ab.

Historische Bedeutung?

Wenn später einmal mit einem gewissen zeitlichen Abstand, Historiker über diese Wahl schreiben werden, wird wohl genau dieses Faktum, also die schwere Wahlniederlage der Union, als markantestes „Eckdatum“ dieses Urnengangs im Mittelpunkt stehen. Und das vor allem deshalb, weil die jahrzehntelang führende politische Kraft der Republik nicht nur weitere 9 Prozentpunkte und über 4 Millionen Wähler verloren hat, sondern darüber hinaus auch ihre angestammte Rolle als geborener „Seniorpartner“ in den Regierungskoalitionen der Republik eingebüßt haben dürfte.

Was das für die Regierbarkeit der Bundesrepublik in der angebrochenen Dekade bedeuten wird, ist aktuell nur schwer abzusehen. Die SPD hat nicht nur unter Brandt und Schmidt (jeweils in einer Koalition mit der FDP) und dann auch unter Schröder (zusammen mit den Grünen),  sondern auch als „Juniorpartner“ in vier „Großen Koalitionen“ bewiesen, dass sie handlungs- und regierungsfähig ist. Das bürgt für eine gewisse Stabilität.

Drei statt zwei

Bislang noch unerprobt in der Geschichte der Republik, ist das Modell der „Dreierkoalition“. Ob sich die in einer solchen Mehrparteienregierung innewohnenden Zentrifugalkräfte angemessen kontrollieren lassen, werden erst die nächsten Monate zeigen. Schwierig dürfte das Ganze vor allem deshalb werden, weil sich die beiden potentiellen Juniorpartner jahrelang eher als Antipoden gegenüber standen und es gerade in einer „Ampel-Konstellation“ für das Gelb in der Mitte schwer sein dürfte, sich in der klassischen Sandwich-Position zu behaupten.

Was wird aus der Union?

Entscheidend für die längerfristige Entwicklung dürfte die Frage sein: Wie lange braucht die Union um sich aus ihrer Schieflage zu befreien? 24 % sind für eine „Volkspartei“ kein akzeptables Fundament auf dem sich einigermaßen sicher aufbauen lässt. Die Fliehkräfte, die die beiden Unionsparteien aktuell und in den nächsten Wochen und Monaten erfassen, sind enorm und es wird viel Kraft und Geschick kosten, um die Reihen zu schließen bzw. die notwendigen Veränderungsprozesse richtig einzusteuern.

Das Hauptproblem ist ohne Zweifel die von Angela Merkel forcierte programmatische Entleerung der Union. Alle zentralen Bastionen der bewährten Unionsprogrammatik in den Bereichen Energiepolitik (Ausstieg aus Kernkraft und Kohle), Migrationspolitik (Hinwendung zu einer dezidiert linken „Open Border-Policy“), Europapolitik (Einstieg in die Schulden-und Haftungsunion), Sicherheitspolitik (Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht) und Gesellschaftspolitik (Abkehr vom traditionellen Familienbild) etc. sind in den Jahren der Merkel-Adminstration Schritt für Schritt geräumt worden. Allesamt auf Kosten der Stammwählerschaft und – wie man jetzt sieht – um den Preis einer höchst wankelmütigen „Laufkundschaft“.*****

Erneuerungsdekade

Damit einher ging ein jahrelanger personeller Aderlass, der es jetzt nach den Wahlen so schwierig macht, neues Profil aufzubauen. Gerade der aktuell viel beschworene „bürgerliche Markenkern“ der Union dürfte sich nur gestützt auf ein profiliertes Personaltableau reanimieren lassen. Volkspartei sein, heißt Breite in Personal und Programmatik gewinnen. Und zwar nicht nur links der Mitte, sondern dezidiert auch rechts der Mitte, auf dem Feld bürgerlich-konservativer Positionen, wo die Union dringend daran gehen muss, verloren gegangenes Terrain zurückzugewinnen.

Als Vorbild für einen solchen Prozess könnte die „Erneuerungsdekade“ der beiden Unionsparteien in den 70er Jahren unter Helmut Kohl und Franz-Josef Strauß dienen, in der aus der Oppositon heraus neue „Grundsatzprogramme“ erarbeitet wurden und neue profilierte „Gesichter“ (Biedenkopf, Geißler und Herzog sowie für den eher konservativ-liberalen Flügel „Köpfe“ wie Dregger, Carstens und Weizsäcker) aufgebaut und eingebunden wurden.

Opposition ist sch…!

Die Erfolgsaussichten solcher Reanimationsprozesse aus der zweiten Reihe sind aktuell nur schwer zu messen. Der Oppositionsstatus kann – wie das „lange“ Erneuerungsjahrzehnt 1969-82 zeigt – durchaus eine Art „Jungbrunnen“ für eine angeschlagene Partei nach Jahrzehnten der Regierungsverantwortung sein. Nicht zuletzt, weil in föderalen Systemen, Opposition im Bund üblicherweise mit Regierungsverantwortung in einzelnen Ländern einhergeht. Und weil Opposition die Möglichkeit eröffnet durch das Präsentieren kluger Alternativen, Profil auf Kosten der Regierenden zu gewinnen.

Voraussetzung in dieser speziellen Konstellation ist jedoch, dass die Aufarbeitung nicht bei Armin Laschet und bei seiner Wahlkampf-Performance Halt macht, sondern die Defizite und problematischen Weichenstellungen der Merkel-Ära ebenfalls aktiv angeht. Der lamentable Zustand, in dem sich die Union aktuell befindet, ist nicht in den letzten Wochen und Monaten entstanden, sondern wurde in den gut anderthalb Jahrzehnten der Merkel-Ära verursacht.

Die von den Grünen propagierte „Klimaregierung“ wird in den nächsten Monaten und Jahren ausreichend Angriffspunkte für eine schlagkräftige Opposition bieten. Die Krisenanfälligkeit eines Politikkonzepts, dass sich nichts weniger als den Totalumbau von Energieversorgung, Industrie und Mobilität innerhalb weniger Jahre vorgenommen hat, ist gewaltig. Gar nicht auszudenken, welche Chancen sich hier für eine angriffige Opposition bieten, die vorab die programmatischen Weichen richtig gestellt hat.

Perspektive 2025

Was also am Ende der neuen Legislatur im Jahre 2025 auf uns wartet, ist derzeit schwer zu prognostizieren. Die Karten werden in den nächsten vier Jahren so oder so neu gemischt. Die gefährlichen Vabanque-Spiele mit dem Strom und mit den Gelddruckmaschinen, die sich in der zu Ende gegangenen Legislatur für das Wahlvolk erst in Ansätzen offenbart haben, werden angesichts eines unmittelbar bevorstehenden Kernkraft-Ausstiegs (Ende 2022) und immer neuen Höchstständen an der Inflationsfront erst in den nächsten Jahren voll durchschlagen.

Wer dann politisch in der Verantwortung steht, wird kühl und nüchtern an den Ergebnissen seiner Krisenbewältigung zu messen sein. Wir dürfen gespannt sein, was uns da erwartet. Die Weichen sind gestellt, nur wohin die Reise geht, muss sich noch zeigen.

* Zur guten „Selfie-Laune“ zwischen FDP und Grünen und zu den Besonderheiten virtueller „Hotspots“ der Interpretationskunst, vgl. den Kommentar von Ulrike Winkelmann vom Deutschlandfunk.

** Die Konstellation an der Spitze der SPD erinnert verblüffend an die Lage des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden, der ebenfalls von einer linken, innerparteilichen „Opposition“ eingerahmt ist und bei seinen Projekten von dieser Seite (Bernie Sanders, Alexandria Ocasio-Cortez etc.) immer wieder daran erinnert wird, dass er noch eine „Dankesschuld“ für die entsprechende Wahlkampfhilfe abzutragen hat

*** Diese wahlarithmetische Besonderheit (weniger als 5 % der Zweitstimmen, aber mehr 5 % der Sitze) hat mit der Tatsache zu tun, dass für die 39 (!) zur Wahl angetretenen, aber nicht im Parlament vertretenen Parteien insgesamt 8,6 % der Stimmen abgegeben wurden. Nach der Wahlordnung heben 3 oder mehr Direktmandate die 5 %-Hürde bei den Zweitstimmen quasi auf und „münzen“ auch Ergebnisse unter 5 % in Parlamentssitze um.

**** Die Tatsache, dass die FDP bei den Erstwählern vor den Grünen liegt (23 % vs. 22 %) dürfte auch in den kommenden Jahren nicht dazu führen, dass in einer Talkshow des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auch mal ein junger Mensch zu Wort kommt, der „keine Lust auf Weltuntergang“ (Gabor Steingart) hat. Das dominante Narrativ von der „grünen, klimabewegten Jugend“ ist vor allem bei ARD und ZDF dermaßen zementiert, dass irgendwie geartete „Haltungsschwächen“ kaum zu erwarten sind.

***** Die Union hat bei den Bundestagswahlen rd. 1,4 Millionen Wählerinnen und Wähler an die SPD verloren, darunter sicher viele, die zwar noch bereit waren eine Merkel-CDU zu unterstützen, aber unter dem gegebenen Umständen des Wahltages doch lieber zum „Original“ zurückgekehrt sind. Ähnliches dürfte für einen erklecklichen Teil der rd. 830.000 Wählerinnen und Wähler gelten, die zum grünen Original „zurückgekehrt“ sind.